15.05.2023
Der mit 20.000 Euro dotierte Stiftungspreis der Helga und Edzard Reuter-Stiftung geht 2023 an Şerife Vural-Banik und Murat Vural, die Gründer des Vereins Chancenwerk e.V. in Castrop-Rauxel. Das Geschwisterpaar wurde auf einem Festakt in Berlin geehrt. Im Rahmen der Veranstaltung sprach der Stiftungsgründer Edzard Reuter zudem mit Bundesminister Cem Özdemir über die Bedeutung einer gelingenden Integration für die deutsche und europäische Zukunft sowie über Krieg, Klima und künstliche Intelligenz als Herausforderungen einer pluralistischen Gesellschaft.
Die Preisträger des diesjährigen Stiftungspreises, das Geschwisterpaar Şerife Vural-Banik und Murat Vural, hatten vor fast zwanzig Jahren den Bildungsverein Chancenwerk e.V. gegründet. Er fördert junge Menschen in ihrer schulischen Bildung und setzt dabei auf ein Geben- und Nehmen-Konzept: Ältere Schüler und Schülerinnen geben jüngeren Nachhilfe, während die alteren in Intensivkursen ihrer Wahl Unterstützung durch Studierende erhalten. Das Konzept zielt insbesondere auf die Förderung benachteiligter junger Menschen, zu denen mehrheitlich Migrantenkinder gehören. Das Chancenwerk ist inzwischen mit mehr als 400 vornehmlich ehrenamtlich tätigen Aktiven an Schulen in fast 40 Städten erfolgreich.
In seiner Laudatio würdigte Kuratoriumsmitglied Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan den Grundgedanken der Chancenwerk-Gründer Şerife Vural-Banik und Murat Vural: "Hier wird eine neue Sorte des Kapitals erzeugt: Wissen wird zur Währung." Zudem würden die vom Chancenwerk bereitgestellten kostenlosen Materialien und Lehrhefte dazu beitragen, dass Lehrkräfte, die ein Fach nicht unterrichten, aber Schulkindern mit Bildungsdefiziten helfen wollen, eine enorme Entlastung erfahren.
Auch im Hinblick auf Akzeptanz und Anerkennung unter nahezu Altersgleichen helfe das Kaskadensystem des Chancenwerks, weil auf ähnlicher Augenhöhe kommuniziert werde. Uslucan: "Da die älteren Schüler im Gegensatz zu den Lehrkräften keine ausgebildeten Pädagogen sind, kommt dem Verhältnis 'Mentor bzw. älterer Schüler versus Schüler', besondere Bedeutung bei." Pädagogische Studien würden belegen, "dass vor allem Schülerinnen und Schüler, die Schwierigkeiten in der Schule haben, am meisten von einer guten Beziehung im Unterricht profitieren", so Prof. Uslucan weiter. Der Wissenschaftler lehrt in Essen als Psychologe, Migrationsforscher sowie Leiter der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung.
Im Rahmen der Veranstaltung tauschte sich der Stifter Edzard Reuter bei einem Podiumsgespräch mit Bundesminister Cem Özdemir zu den Herausforderungen einer pluralistischen Gesellschaft in Fragen der Integration aus. Dabei beklagte Bundesminister Cem Özdemir Versäumnisse bei der Integration von Zuwanderern: "Älteren Menschen, die schon immer hier gelebt haben, hat man nicht wirklich erklärt, was auf sie zukommt; dass sich unser Land verändern wird, dass die Menschen bleiben, dass sie ihre Religion, ihre Sprache und Gewohnheiten mitbringen." Andererseits habe man "denjenigen, die zu uns kommen, nicht gesagt, was es heißt, hier zu leben, wie diese Gesellschaft aufgebaut ist. Das macht man alles erst jetzt."
Für eine funktionierende Integration brauche Deutschland neue Spielregeln. Wer nach Deutschland komme, müsse wissen, welche Regeln hier gelten, so Özdemir. Wer mit dem Grundgesetz "ein Problem hat, sollte sich überlegen, ob es für ihn das richtige Land ist". Der Politiker forderte "ein Staatsangehörigkeitsrecht, das einen mit der Geburt zum Inländer macht – und nicht, dass es wie in meinem Fall 18 Jahre dauert". Özdemir mahnte in diesem Punkt einen parteiübergreifenden nationalen Konsens an.
Zudem sei es "ökonomisch absurd" und ein "Skandal, dass sich der Bildungserfolg entlang der Herkunft der Eltern, entlang des akademischen Grades der Eltern vererbt". Darum komme es darauf an, Lehrkräfte in ihrer Ausbildung besser darauf vorzubereiten, dass sie auf Schülerinnen und Schüler treffen, die ein Spiegelbild der pluralistischen Gesellschaft seien. Es sei paradox, das Potenzial auch von Kindern mit Migrationshintergrund nicht auszuschöpfen.
Bundesminister Cem Özdemir betonte, wie wichtig es sei, "Menschen zu unterstützen, die anderen bei der Integration helfen, die dabei Vorbilder seien und viele andere nach sich ziehen". Man solle "der Jugend Raum geben, dass sie mit Begeisterung Demokraten werden und begreifen, dass sie bei allem, was wir Ihnen geben, auch der Gesellschaft etwas zurückgeben". Integration müsse man "miteinander aushalten und ausverhandeln", so Cem Özdemir. "Ich plädiere für Geduld."
Um das gesellschaftliche Miteinander in Deutschland zu fördern, unterstützt die gemeinnützige Helga und Edzard Reuter-Stiftung Personen und Institutionen, die sich engagieren, um die Integration voranzubringen. Die Preisträger werden vom Kuratorium der Stiftung bestimmt. Edzard Reuter, Sohn des legendären Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter, war Daimler-Benz-Vorstandsvorsitzender. Er ist Ehrenbürger Berlins und wirkt in vielen kulturellen und wissenschaftlichen Förderkreisen und Stiftungen mit.