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Schöpfung 2.0 – die ethische Perspektive der Genom-Editierung

08.11.2023

Das Potenzial der Genforschung ist enorm. Mit den ethischen Fragen setzt sich systematisch die Tübinger Forschungsstelle "Ethik der Genom-Editierung" auseinander, die von der Dr. Kurt und Irmgard Meister-Stiftung gefördert wird. Fünf Fragen an die Medizinethiker Prof. Robert Ranisch und Prof. Urban Wiesing.

Vor 50 Jahren befand sich die Welt in ihrer ersten Ölkrise, in den USA machte der Watergate-Skandal Schlagzeilen, und auf dem Gebiet der Wissenschaft wurde das Zeitalter der Gentechnik eingeläutet. Auf die ersten gentechnisch veränderten Mäuse folgten Nutzpflanzen und mit dem Schaf Dolly das erste geklonte Säugetier. Eine Zeitenwende in der Weiterentwicklung des gentechnischen Werkzeugkastens war die Entdeckung der Genschere CRISPR/Cas. Sie erlaubt, Gene zielgerichtet zu schneiden und neu zusammenzusetzen. Wie in einem Text lässt sich der Bauplan des Lebens umschreiben. Während erste klinische Studien bei Patienten mit vererbten Blutkrankheiten genehmigt wurden und Hoffnung auf Heilung weckten, blieben Eingriffe in die Keimbahn von Menschen tabu. Diese ethische Brandmauer wurde mit der Geburt der chinesischen Zwillinge Lulu und Nana im Jahr 2018 eingerissen.

In der deutschlandweit einzigartigen Tübinger Forschungsstelle "Ethik der Genom-Editierung" befasst sich das Team um die Medizinethiker Professor Urban Wiesing (Universität Tübingen) und Professor Robert Ranisch (Universität Potsdam) mit den ethischen, rechtlichen und sozialen Herausforderungen der Genom-Editierung.

Im Jahr 2018 wurde öffentlich, dass in China die ersten gentechnisch modifizierten Kinder zur Welt gekommen sind. Ihre DNA sollte mit der CRISPR-Technologie so verändert werden, dass sie eine Resistenz gegen HIV aufweisen.

Urban Wiesing: Dieser Fall unterstreicht deutlich die weitreichenden Möglichkeiten der Genom-Editierung. Verfahren wie CRISPR können für die Modifikation verschiedenster Organismen eingesetzt werden. Die Bandbreite der Anwendungsmöglichkeiten erstreckt sich von der Landwirtschaft über die Medizin bis hin zur Entwicklung neuer Medikamente und sogar zur Manipulation menschlicher Embryonen.

Robert Ranisch: Ja, das Potenzial der Genom-Editierung ist in der Tat enorm. Aber neben den vielen vielversprechenden Anwendungsmöglichkeiten, wie zum Beispiel neuen Therapien, sind auch zahlreiche ethische und gesellschaftliche Fragestellungen mit der Nutzung dieser Technologien verbunden. Insbesondere die Experimente in China, bei denen es um Veränderungen der Keimbahn ging, sind äußerst umstritten. Wenn man die DNA eines Embryos verändert, könnten die Folgen und Nebenwirkungen solcher Eingriffe nicht nur die unmittelbaren Nachkommen, sondern auch kommende Generationen betreffen.

Urban Wiesing (Foto: urbanwiesing.de)
Foto: urbanwiesing.de
Urban Wiesing (Universität Tübingen)

 
Als die Nachricht von den ersten gentechnisch veränderten Babys im Jahr 2018 weltweit Schlagzeilen machte, gehörten Sie zu den ersten Experten, die in den Medien zu Wort kamen.

Ranisch: Schon zu diesem Zeitpunkt waren wir an der Forschungsstelle "Ethik der Genom-Editierung" intensiv mit den Möglichkeiten und ethischen Aspekten von Eingriffen in die Keimbahn befasst. Wir hatten im Vorjahr ein umfangreiches Gutachten im Auftrag des Deutschen Bundestages zu dieser Thematik erstellt. Viele der ethischen Fragen sowie die Chancen und Risiken dieses Forschungsfeldes hatten wir bereits kartiert.

Wiesing: Das ist genau das, was die Forschungsstelle auszeichnet. Wir verfolgen kontinuierlich die Entwicklungen im Bereich der Genom-Editierung und erforschen potenzielle zukünftige Anwendungen und deren ethischen Dimensionen. Vom ersten Einsatz der CRISPR-Methode bis zur Anwendung an menschliche Embryonen – damals noch auf Versuche im Reagenzglas beschränkt – vergingen nur etwas mehr als zwei Jahre. Bei dieser Geschwindigkeit hinkt gerade die ethische Reflexion zuweilen hinterher, braucht es doch gerne einmal zwei Jahre von der Antragstellung bis zum Beginn eines Forschungsprojekts. Hier ist die Forschungsstelle in einer einzigartigen Position im deutschsprachigen Raum. Dank der langfristigen Grundfinanzierung durch die Dr. Kurt und Irmgard Meister Stiftung können wir in Echtzeit auf Entwicklungen reagieren.

Neben der Modifikation von Embryonen, welche weiteren Themen stehen im Mittelpunkt Ihrer Forschung?

Wiesing: Es sind zahlreiche Themen, hier nur eine Auswahl: Man muss eine neue Methode vor der Anwendung zuerst erforschen. Dazu muss man vorab Nutzen und Risiken abschätzen. Doch kann man bei einer Keimbahnintervention Nutzen und Risiken für spätere Generationen überhaupt abschätzen? Wer kann denn schon sagen, welche Auswirkungen eine Veränderung der Keimbahn in späteren Generationen haben wird? Das empirisch zu erforschen, würde sehr lange dauern. Und unter welchen Bedingungen darf man mit der Erforschung dann überhaupt beginnen? Zudem stellt sich die Frage nach dem Zugang zu Interventionen, wenn sie nach der Erforschung zur Verfügung stehen. Wird es hier Vorkehrungen für einen gerechten Zugang geben? Überdies stehen alle modernen Technologien und eben auch die Genom-Editierung vor einem regulatorischen Problem: Sie werden weltweit entwickelt, aber es gibt keine weltweite Institution, die mit Sanktionskraft die Entwicklung regulieren könnte. Das erschwert es, inakzeptable Forschung zu verhindern. 

Ranisch: Kürzlich haben wir uns intensiv mit dem Einsatz der Genom-Editierung in der Forschung an Hirnorganoiden befasst. Diese sind künstlich erzeugte Organstrukturen, die dem menschlichen Gehirn ähneln. Zudem interessieren wir uns weiterhin für das Feld der Reproduktionsmedizin, insbesondere für die Anwendung der Genom-Editierung an künstlich erzeugten Ei- und Samenzellen. Aktuell erforschen wir auch die Schnittstellen zwischen Genom-Editierung und künstlicher Intelligenz sowie die Möglichkeiten der Xenotransplantation. Es besteht die Hoffnung, dass schon bald durch Gentechnologie angepasste Organe von Tieren als Transplantate für Menschen genutzt werden könnten. Das würde angesichts des Mangels an Spenderorganen ein enormes Potenzial bergen. Kurzum: Die Forschungsthemen werden uns so schnell nicht ausgehen.

Robert Ranisch (Foto: Marcel Wogram für VolkswagenStiftung)
Foto: Marcel Wogram für VolkswagenStiftung
Robert Ranisch (Universität Potsdam)

 
Sie engagieren sich darüber hinaus sehr aktiv im Bereich der Wissenschaftskommunikation.

Ranisch: Ethische Fragen können nicht in einer akademischen Blase beantwortet werden. Dies gilt insbesondere für Fragestellungen, die sich aus den Anwendungsmöglichkeiten der Genom-Editierung ergeben. Deshalb suchen wir durch verschiedene öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen und Initiativen den Dialog mit der breiteren Bevölkerung ...

Wiesing: ... und das überaus erfolgreich. Herr Ranischs Engagement in der Öffentlichkeitsarbeit zu Themen der Genom-Editierung wurde mit dem erstmals ausgelobten Tübinger Nachwuchspreis für Wissenschaftskommunikation ausgezeichnet.

Ranisch: Ja, das war eine schöne Ehrung. Mit der Forschungsstelle haben wir tatsächlich einiges erreicht. Wir konnten Kinoabende organisieren, ein Pub-Quiz, Science Slam und auch ein Bürgerparlament. Für unsere öffentlichen Ringvorlesungen haben wir Spitzenforscher aus dem Feld gewonnen, ebenso wie politische Entscheidungsträger. In Erinnerung geblieben ist mir insbesondere eine lebhafte Diskussion mit der baden-württembergischen Wissenschaftsministerin zum Thema Gentechnologie. Mit dem Museum für Naturkunde Berlin hat die Forschungsstelle zudem einen idealen Kooperationspartner gefunden, mit dem wir ein größeres Partizipationsprojekt umsetzen konnten. Aus dem Projekt ist zum Beispiel ein interaktiver Comic entstanden, welcher noch einmal den Austausch mit einer jüngeren Zielgruppe erlaubt hat.

Neben der Forschung und der Wissenschaftskommunikation ist Ihre Forschungsstelle auch in der Lehre und Weiterbildung aktiv.

Wiesing: Mit der Forschungsstelle hat das Thema der Genom-Editierung mittlerweile einen festen Platz in unserem Lehrprogramm bekommen. Vielfach konnten wir für die Medizinstudierenden am Universitätsklinikum Tübingen ganze Kurse zu den ethischen und rechtlichen Fragen neuer Gentechnologien anbieten. Neben all dem Auswendiglernen im Studium fanden es viele Studierende unglaublich bereichernd, einmal kritisch über die ethischen Implikationen der Medizin von Morgen zu reflektieren. So hat die Forschungsstelle mittlerweile auch schon einige Doktoranden angezogen, die sich in ihren Qualifizierungsarbeiten mit ethischen Fragen der Genom-Editierung beschäftigen.

Ranisch: Hinzu kommen unsere regelmäßigen Klausurwochen oder Summer Schools, mit denen wir mittlerweile weit über Tübingen hinaus reichen. Dieses Jahr konnten wir bereits zum zweiten Mal im Rahmen des europäischen Hochschulverbundes "CIVIS – Europe‘s Civic University Alliance" eine großformatige Summer School zur Genom-Editierung anbieten. In virtuellen Sitzungen und schließlich vor Ort in Tübingen haben wir ca. 30 Studierenden aus ganz Europa ein tolles Programm mit mehr als 20 Veranstaltungen geboten. Das ist insbesondere unserem irischen Senior Researcher Dr. Oliver Feeney zu verdanken, der die Forschungsstelle seit 2021 unterstützt. Nicht nur in der Forschung, sondern zunehmend auch in der Lehre haben wir mittlerweile ein breites internationales Netzwerk geknüpft.

Die Dr. Kurt und Irmgard Meister-Stiftung wurde 1995 von Irmgard Meister aus Hagen errichtet. Zweck der Stiftung ist die Förderung der medizinischen Wissenschaft und Forschung; insbesondere auf dem Gebiet der Genforschung. Seit 2017 fördert die Stiftung die Forschungsstelle "Ethik der Genom-Editierung" am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.