Und trotzdem steht häufig das Amyloid-Beta-Protein im fachlichen, aber auch im allgemeinen Kontext als alleiniger Auslöser der Alzheimer-Erkrankung im Mittelpunkt. Wie ist es zu einer derart festgefahrenen Hypothese gekommen?
Das hat meiner Meinung nach sehr viele Gründe. In den Jahren ab 1990 hat der Forschungsfokus auf die Biologie des Amyloid-Beta-Proteins, das als krankheitsspezifische Gehirnablagerung verstanden wurde, eine Vielzahl von hervorragenden Ergebnissen hervorgebracht. Vieles schien auf eine zentrale Rolle des Amyloid-Beta-Proteins als alleinigem Auslöser der Krankheit hinzuweisen. Bereits 1992 wurde dann die "Amyloid-Kaskaden-Hypothese" formuliert. Demnach ist Amyloid Beta der initiale Trigger der Neurodegeneration, eine These, die bei ihren Unterstützern bis heute weiterhin Gültigkeit hat. Die Alzheimer-Amyloid-Community war sehr aktiv in diesen Jahren, und es war schwer, alternative Ideen einzubringen oder die dominierende These gar anzuzweifeln. Zu oft war "Keep it simple" das Mantra und der lineare und leicht nachvollziehbare Ansatz der Kaskade extrem populär, auch wenn sich früh abzeichnete, dass diese reduktionistische Sicht das Krankheitsgeschehen nicht adäquat abbildet. Die Einflussfaktoren, die zur anhaltenden Dominanz der Amyloid-Kaskaden-Hypothese führten, sind äußerst vielfältig und nicht nur wissenschaftlicher Natur.
Der Weg von vielversprechenden Ergebnissen der Grundlagenforschung in die klinische Anwendung ist generell schwer. Gibt es Studien, die einen therapeutischen Effekt zeigen, wenn die Bildung von Amyloid Beta verhindert bzw. abgelagertes Amyloid entfernt wird?
Nach 30 Jahren Amyloid-Forschung haben wir heute effektive Werkzeuge, das im Gehirn abgelagerte Amyloid-Beta-Protein zu entfernen. Leider nur ergaben sich in klinischen Studien dadurch keine vollumfänglich überzeugenden positiven Effekte auf die kognitiven Leistungen von Betroffenen. Auch interessant ist die Tatsache, dass mindestens 30 Prozent der älteren Menschen Amyloid-Beta-Protein-Ablagerungen im Gehirn aufweisen, ohne unter auffälligen kognitiven Einschränkungen zu leiden. Inzwischen wird sogar eine eher schützende Rolle des Amyloid-Beta-Proteins diskutiert. Dies alles sind Befunde, die die Rolle des Amyloid Beta als initialen Krankheitsauslöser stark anzweifeln lassen. Wir müssen wohl akzeptieren, dass Alzheimer hoch komplex und pathogenetisch eine sehr individuelle Erkrankung ist und eher ein Syndrom als eine klar definierbare Krankheit ist.
Stand heute ist keine erfolgreiche Therapie oder gar die Prävention dieser neurodegenerativen Erkrankung in Sicht. Was muss passieren, um der Heilung von Alzheimer näherzukommen?
Es gibt durchaus eine ganze Reihe von vielversprechenden Ansätzen der Prävention, mit denen man das Risiko, im Alter an Alzheimer zu erkranken, reduzieren kann. Aber natürlich werden vor allem effektive Therapien sowie Möglichkeiten, den neurodegenerativen Prozess aufzuhalten gebraucht. Also eine echte Intervention zu einem Zeitpunkt, wenn die Krankheit erstmals diagnostiziert ist. Um einer Heilung oder zumindest einer erfolgreichen Behandlung näher zu kommen, braucht es meiner Meinung nach vor allem ein fundamentales Umdenken, übrigens auch was die Definition dieser Hirnerkrankung betrifft: weg vom eingleisigen Blick auf Alzheimer als monokausaler Erkrankung, hin zu einem Verständnis von Alzheimer als ein multikausales Syndrom des Gehirns. Daher muss eine signifikante Veränderung der Alzheimer-Forschung passieren, ein Umdenken und eine Erweiterung im Sinne eines Paradigmenwechsels in den Forschungsansätzen ist nötig. Auch sollten wir nicht kategorisch von der Alzheimer-Krankheit, sondern eher von unterschiedlichen Formen dieser Erkrankung, die dann individuell verschiedene Ursachen haben.
Sie haben im Juli 2023 zu diesem Thema ein Buch mit dem Titel "Alzheimer’s Disease Research: What Has Guided Research So Far and Why It Is High Time for a Paradigm Shift" veröffentlicht. Was ist aus Ihrer Sicht die wichtigste Take-Home-Message?
Das Buch ordnet zunächst den Demenzbegriff historisch ein und beschreibt die Entwicklung der Alzheimer-Forschung seit der Einführung des Begriffes "Alzheimer-Krankheit" im Jahr 1910. Es werden die Wege zu den auch heute noch aktuellen Therapieansätzen sowie die vielen grundlagenwissenschaftlichen Hypothesen zur Krankheitsentstehung dargestellt. Natürlich spielen die Amyloid-Kaskaden-Hypothese und ihre Dominanz eine sehr große Rolle im Buch. Darüber hinaus präsentiert das Buch mögliche Ursachen dieser Dominanz sowie auch eine neue, eigene Hypothese der Alzheimer-Krankheit, die die Individualität und individuelle altersrelevante Veränderungen sowie multigenetische Aspekte berücksichtigt. Die zentrale Take-Home-Message wäre mein Plädoyer für ein Öffnen der Alzheimer-Forschung "beyond amyloid", um viele Krankheitsfaktoren gleichzeitig untersuchen zu können und einer personalisierten Medizin für die Therapie von Alzheimer den Weg zu bereiten.