07.06.2021
Demenz ist die neue Volkskrankheit. Rund 1,6 Millionen Deutsche leiden an einer Demenzerkrankung. Mit ihnen zusammen leiden auch rund 2,5 Millionen pflegende Angehörige, denn die Pflege ist nicht nur körperliche Schwerstarbeit, sondern oft auch eine enorme seelische Belastung. Demenz droht zur zweithäufigsten Todesursache weltweit zu werden.
Um Fortschritte in der Forschung voranzutreiben, wurde die Deutsche Demenzhilfe – DZNE-Stiftung für Forschung und Innovation gegründet. Ihre Aufgabe ist es, Spenden einzuwerben, um die Demenzforschung und die Suche nach geeigneten Therapien am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE) zu intensivieren. Mitglied im Kuratorium der Stiftung ist Alexandra Gräfin Lambsdorff, mit der wir über Forschungsprojekte, Früherkennung und einen vorbeugenden Lebensstil sprachen.
Alexandra Gräfin Lambsdorff
(Foto: privat)
Sehr geehrte Gräfin Lambsdorff, Sie sind nicht nur Stifterin der Quistorp-Stiftung und Mitglied im Stiftungsrat des Deutschen Stiftungszentrums, sondern seit 2018 auch Kuratoriumsmitglied der Deutschen Demenzhilfe – der DZNE-Stiftung für Forschung und Innovation. Was sind die Ziele der Stiftung?
Es ist ganz einfach und ganz schrecklich: Wir stehen vor einer Lawine von Erkrankungen an Demenz und haben keine Therapie. Deshalb müssen wir forschen, forschen, forschen, um Therapien zu entwickeln. Sowohl zur Vorbeugung als auch zur Behandlung. Beides fehlt! Das aber verlangt viel Geld, das wir dringend brauchen, um möglichst vielfältige Forschungsansätze zu fördern. Wir haben das in der Welt zurecht herausragend renommierte Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Deutschland und damit die Möglichkeit, durch unsere Stiftung genau dieser Einrichtung zu zusätzlichen, privaten Geldern zu verhelfen.
Für die Krankheiten AIDS und Krebs etwa ist es gelungen, eine große öffentliche Aufmerksamkeit zu schaffen. Auch Demenzerkrankungen sind heutzutage allgegenwärtig – jedoch scheint es, dass sich die Menschen nur ungern damit auseinandersetzen. Warum engagieren Sie sich persönlich für dieses Thema?
Ich glaube, jeder von uns kennt in seinem persönlichen Umfeld jemanden, der an Demenz erkrankt ist. So ist es auch bei mir. Ich habe viele Jahre eine demente alte Dame rechtlich betreut und gehörte viele Jahre einem informellen Betreuungsteam einer anderen an Demenz erkrankten jungen Frau an. Daneben engagiere ich mich in einem Bonner Hospiz. Dies alles führt mir ständig vor Augen, wie schwierig die Lage für die Betroffenen, aber auch für die Angehörigen und für die Gesellschaft als Ganzes ist – und sie wird noch viel schwieriger werden. Leider haben Sie mit Ihrer Frage Recht: Viele Menschen fürchten sich eher vor Demenz bei sich selber oder bei den Angehörigen und verschließen lieber die Augen davor als dagegen anzugehen.
Für viele Menschen sind die Begriffe Alzheimer und Demenz synonym. Dabei gibt es klare Abgrenzungen. Was meinen wir eigentlich, wenn wir über Demenz sprechen?
Die häufigste Demenz-Erkrankung ist Alzheimer. Allen Demenzerkrankungen ist der Verlust von Nervenzellen gemeinsam. Ich selber bevorzuge es, den Oberbegriff "neurodegenerative Erkrankungen" zu verwenden, denn damit wird klar, dass wir Forschungen unterstützen müssen und wollen, die uns auch bei Parkinson und anderen verwandten Erkrankungen des Gehirns weiterhelfen.
Demenzerkrankungen betreffen immer größere Teile der Gesellschaft: Jährlich erkranken in Deutschland etwa 300.000 Menschen an Demenz, zwei Drittel davon an der Alzheimer-Krankheit. Aktuell leiden rund 1,6 Millionen Deutsche unter einer Demenzerkrankung. Ohne bahnbrechende Erfolge in der Forschung wird bis 2050 ein Anstieg auf drei Millionen Patientinnen und Patienten prognostiziert. Und die Betroffenen werden jünger. Welche Erklärungsversuche gibt es für den allgegenwärtigen Anstieg? Ist unsere Gesellschaft hinreichend auf die erwartet starke Zunahme von Menschen mit Demenz vorbereitet?
Diese ja wirklich beängstigende Zunahme der Zahlen ist alleine auf den Anstieg der Lebenserwartung zurückzuführen. Je älter wir alle werden, umso höher ist die Eintrittswahrscheinlichkeit für eine Demenzerkrankung. Und die Gesellschaft ist überhaupt nicht darauf vorbereitet! Deshalb haben wir in der Stiftung auch nicht nur die Aufgabe, Gelder für möglichst vielfältige Forschungsansätze zu sammeln, sondern wir müssen auch den gesamten Themenkomplex stärker in das Bewusstsein der Bevölkerung bringen. Damit früher über die auf uns zukommenden Probleme und die dazu erforderlichen Hilfestellungen diskutiert wird. Ich erinnere nur an die Frage: Wer soll die Pflege übernehmen in einer schrumpfenden und überalterten Bevölkerung wie der unsrigen?
Die Grenzen zwischen einer normalen Vergesslichkeit und einer Demenzerkrankung sind häufig fließend. Dabei ist die Früherkennung einer Erkrankung sehr wichtig, denn sie steigert die Chance, den Krankheitsverlauf durch geeignete Therapien vielleicht zu verlangsamen. Ab wann sollten Betroffene ärztlichen Rat suchen? Und welche Möglichkeiten der Früherkennung gibt es?
Ich sehe eher das Problem, dass Menschen zu spät zum Arzt gehen mit der Frage, ob sie unter Demenz leiden, als zu früh. Deshalb kann ich nur raten, sich möglichst frühzeitig an einen Arzt des Vertrauens zu wenden. Ich selber mache jedes Jahr einen Gedächtnistest in der Gedächtnisambulanz eines Bonner Klinikums. Das ist sogar eine recht vergnügliche Angelegenheit, und anschließend bin ich ganz beruhigt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich weiß, dass alle meine Versorgemaßnahmen zwar getroffen sind, aber noch nicht zum Einsatz kommen müssen. Ich kann nur jedem raten, sich rechtzeitig mit den dazugehörigen Fragen auseinanderzusetzen und nicht erst zu reagieren, wenn sich das Amtsgericht einschalten muss und einen fremden Betreuer einsetzt!
Durch die Diagnose einer Demenz ändert sich alles – nicht nur für die Erkrankten. Für Angehörige ist die Betreuung und Pflege häufig eine große Herausforderung. Steht auch dieses Thema im Fokus der Stiftung?
Zu den vielen Standorten des DZNE in ganz Deutschland gehört auch Rostock/Greifswald. Dort befassen sich die Forscher speziell mit der Verbesserung der Pflege. Es werden 100 Hausarztpraxen und 500 Patienten beobachtet und langfristig beraten. Im Ergebnis werden "Dementia Care Manager" geschult, was an die gute alte Gemeindeschwester in meiner Kindheit erinnert. Speziell geschulte Pflegefachkräfte besuchen die Patienten zuhause und erfassen mit einem eigens dafür entwickelten Computerprogramm die gesundheitlichen Beschwerden, sie überprüfen die Medikamenteneinnahme, die Art und Häufigkeit von Arztbesuchen sowie weitere pflegerische, sozialrechtliche, medizinische und psychosoziale Bedarfe. So können sie Versorgungslücken der ja häufig alleine oder mit einem ebenfalls sehr alten Partner lebenden Patienten identifizieren und helfend einschreiten.
Die Stiftung Deutsche Demenzhilfe unterstützt die Forschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen. Was braucht es, um die Wissenschaft mit den nötigen Mitteln auszustatten?
Ich besinne mich genau, wie Mildred Scheel angefangen hat, Geld für die Deutsche Krebshilfe zu sammeln, und ebenso war ich in der Nationalen Aidsstiftung engagiert. Beide Einrichtungen waren äußerst erfolgreich, haben viele Mittel den Forschern zur Verfügung stellen können, und das Ergebnis kann sich weiß Gott sehen lassen: Die Schrecken dieser Krankheiten sind ein gutes Stück aufgehoben, die Therapiemöglichkeiten und Heilungschancen beachtlich verbessert. Das müssen wir jetzt genauso für die Demenzforschung hinbekommen. Viele, viele Gelder brauchen wir, um mehr über die Wirkungsmechanismen zu lernen und so auf Dauer nicht nur rechtzeitig vor der Erkrankung, sondern auch nach Feststellung der Diagnose therapieren zu können.
Welche Forschungsprojekte haben Sie in den drei Jahren, in denen Sie Kuratoriumsmitglied der Stiftung sind, besonders beeindruckt?
Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, weil ich eigentlich von allen Forschungsvorhaben und auch von allen Forschern sehr beeindruckt bin. Eine solche Ansammlung von brillant intelligenten Menschen trifft man nur selten! Dennoch würde ich sagen, dass die sogenannte "Rheinlandstudie" mir sehr einleuchtet: Das Schwierigste an der Demenz ist ja, dass wir, wenn wir die ersten Anzeichen bemerken, die Ursache für die Erkrankung bereits seit etwa 30 Jahren in uns tragen. Und dann ist nach derzeitigem Forschungsstand alles zu spät. Wir müssen also an die Früherkennung ran. Und da hilft die erwähnte Studie, die Tausende von Bürgern über 30 Jahre eng begleitet und so eines Tages angeben kann, an was für Krankheiten ein jetzt Dementer vor 30 Jahren gelitten hat. Nur ein kleiner Hinweis: Ob wir in 30 Jahren feststellen, dass die derzeitige Pandemie sich in einer Zunahme der Demenzerkrankungen auswirken wird, ist leider gar nicht so unwahrscheinlich.
Wenn wir über Demenzerkrankungen sprechen, stellt sich automatisch die Frage: Können wir uns davor schützen?
Der Verlust der Nervenzellen ist nach heutigem Stand nicht zu verhindern. Aber: Je mehr aktive Nervenzellen wir haben, umso besser wird unser Gehirn damit fertig, wenn ein Teil von ihnen verloren geht, und hier können wir alle aktiv werden. Also: Regen wir ein Leben lang unser Gehirn an, Nervenzellen aufzubauen – durch Bewegung, geistige Anregungen, Lernen, soziale Kontakte. Das Schönste ist für mich immer die Aufforderung: Tanzen Sie mit einem Partner Gesellschaftstänze! Dann bewegen Sie sich, müssen auf Musik und deren Rhythmus sowie auf die Gespräche des Partners reagieren. Da wird das Gehirn in Wallung gebracht. Klavierspielen, eine neue Sprache lernen, Menschen treffen – all das gehört dazu. Und vor allem: nicht rauchen und nicht trinken, erst recht nicht festgemauert vor dem Fernseher oder Computer sitzen.
Zum Schluss noch einmal eine persönliche Frage: Was wünschen Sie sich für die nächsten fünf Jahre für die Stiftung Deutsche Demenzhilfe und die Demenzforschung?
Geld, Geld, Geld! Und das für mehr als nur für fünf Jahre. Durch Spenden, große und kleine, durch Zustiftungen, durch Testamente usw. usf.!
Wir danken Ihnen für das Gespräch!