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Aktuelles aus den Stiftungen

20 Jahre Chancenwerk e.V.:
"Wir wollten Vorbilder sein"

13.05.2024

Es ist eine echte Erfolgsgeschichte: Zum 20-jährigen Jubiläum des Bildungsvereins Chancenwerk e.V. haben wir mit Şerife Vural-Banik und Murat Vural über ihre Motivation gesprochen, mit ihrem Verein den Kampf gegen die Bildungsbenachteiligung in Deutschland aufzunehmen. Chancenwerk wurde im vergangenen Jahr mit dem Preis der Helga und Edzard Reuter-Stiftung ausgezeichnet und ist engagiert in der 2024 vom Stifterverband gestarteten Zukunftsmission Bildung.

Liebe Frau Vural-Banik, lieber Herr Vural, der Bildungsverein Chancenwerk wird in diesem Jahr 20 Jahre alt und hat sich zu einem Vorzeigeprojekt für sehr erfolgreiches gesellschaftliches Engagement entwickelt. "Bruder, wir müssen etwas tun", sollen Sie, Frau Vural-Banik, quasi als Initialzündung vor 20 Jahren zu Ihrem Bruder gesagt haben. Können Sie uns noch einmal in diese Zeit mitnehmen und uns Ihre Motivation für die Gründung Ihres Vereins darlegen?

Şerife Vural-Banik und Murat Vural (Foto: Chancenwerk e.V.)
Foto: Chancenwerk e.V.
Şerife Vural-Banik und Murat Vural

Şerife Vural-Banik: Meine Grundschulzeit habe ich in schlechter Erinnerung. Ich habe mich dort allein gefühlt. Mir wurde das Gefühl vermittelt, irgendwie schlechter zu sein als andere. Mir fehlte das Selbstvertrauen, mehr zu schaffen, obwohl ich es wollte. Das hat sich dann während meiner Ausbildung zur Arzthelferin verbessert. Als Schülerin habe ich auf dem Trödelmarkt gearbeitet, um meine Nachhilfe zu bezahlen – mein Umfeld hat das damals belächelt. Ich habe es trotzdem durchgezogen, weil ich festgestellt hatte, dass es mir etwas bringt. Nach der Schulzeit habe ich eine Ausbildung als Arzthelferin gemacht. Das hat mich motiviert, weiterzukommen. Ich habe mein Fachabi nachgeholt und dann Sozialpädagogik studiert. Dabei habe ich mich mit der Situation von Migrantenkindern in Deutschland beschäftigt. Die Medien sagten: "Migrantenkinder haben Probleme in der Schule." Und ich wusste, dass es so ist. Aber ich dachte: Das darf nicht sein! Das Thema meiner Diplomarbeit lautete dann auch: "Die Bildungssituation von Migrantenkindern in Deutschland". Mir wurde noch bewusster, dass wir es als Migrantenkinder schwerer haben voranzukommen. Dem lagen nicht nur schulische, sondern auch andere Probleme zu Grunde: zum Beispiel das Aufwachsen zwischen zwei Kulturen. Aber ich wollte ein Vorbild sein für die Nachbarkinder. Ich wollte ihnen zeigen, dass man mutiger sein muss! Das war sozusagen der Startschuss für die Gründung von Chancenwerk. Murat und ich wollten das ändern, etwas zurückgeben und als Vorbilder für andere Kinder agieren. Daher haben wir Chancenwerk e.V. gegründet.

Murat Vural: Auch mich hat unsere eigene Betroffenheit motiviert. Ich habe immer wieder gehört, dass mir Lehrer gesagt haben: "Hey Du kriegst das nicht hin. Du schaffst das nicht." Und ich habe es immer geschafft. Dann haben wir überlegt und Schwester und ich hatten die Idee: Das, was wir erlebt haben, dürften die anderen nicht erleben. Wir müssen etwas tun, denen ehrenamtlich helfen. Und das war sozusagen der erste Schritt, und so haben wir angefangen. Ich kann in Mathe helfen, deswegen habe ich einfach den Kindern in Mathe geholfen. Und irgendwann haben wir dann das damals zu etwas Größerem gemacht.
 

Wie schwierig war der Schritt von der Idee bis zur Umsetzung der ersten Angebote in den Schulen?
Während unseres Studiums ist uns aufgefallen, dass wir nicht alleine mit unseren negativen Erfahrungen im Schulsystem waren. Wir hörten ähnliche Geschichten von anderen und wussten, es gibt noch so viel mehr junge Heranwachsende mit und – wie sich später herausstellte – ohne Migrationsgeschichte, die unsere Erfahrungen teilen. Wir beschlossen mit einer Handvoll Kommilitoninnen und Kommilitonen, Betroffenen zu helfen. Anfangs noch ehrenamtlich und überall dort, wo es sich anbot. Wir haben dann auf Empfehlung einen Verein gegründet und haben eine Schule in unserer Stadt Castrop-Rauxel angefragt. Wir konnten unsere Lernförderung dort anbieten und daraus hat sich Chancenwerk entwickelt.
 

Wie definieren Sie heute die Mission von Chancenwerk e.V.?
Wir wirken Bildungsbenachteiligungen nachhaltig entgegen. Mit unserer Lernkaskade haben wir ein nachhaltiges bzw. "nachwachsendes" System geschaffen, mit dem junge Menschen umfassend gefördert und ihnen neue Perspektiven eröffnet werden. Es geht um Zutrauen, ein Miteinander und um Vorbilder. Wir setzen uns also für Chancengerechtigkeit und bessere Bildungschancen ein, insbesondere für die Kinder, deren Familien sie aus diversen Gründen, zum Beispiel finanziellen, zeitlichen oder sprachlichen, nicht ausreichend beim Lernen unterstützen können.

Foto: Chancenwerk e.V.

Können Sie kurz die Kernprogramme und -projekte von Chancenwerk e.V. vorstellen? Welchen Ansatz verfolgen Sie, um mehr Bildungsgerechtigkeit zu erreichen?
Unser langjähriges Kernprodukt ist die Lernkaskade. Sie ist ein von uns entwickeltes Lernförderkonzept, welches wir an unseren Partnerschulen etabliert haben. Dort helfen Studierende gemeinsam mit Jugendlichen ihren jüngeren Mitschülerinnen und Mitschülern dabei, sie in ihren Basiskompetenzen zu fördern, sich auf Klassenarbeiten vorzubereiten und ihre Noten zu verbessern. Im Gegenzug dazu erhalten die Jugendlichen von Studierenden Intensivkurse in einem Fach ihrer Wahl. In der Lernförderung nutzen wir bereits seit Ende 2022 eigens entwickelte Lernhefte, die CHANCENhefte, die auf die Bedarfe der Kinder und Jugendlichen zugeschnitten sind. So können die Schülerinnen und Schüler gegenwärtig Inhalte in Deutsch, Mathe, Englisch, Biologie und Chemie vertiefen. Mit unserer CHANCENschule digital bieten wir digitale Lernförderung in Kleingruppen per Videokonferenz an. Dieses Angebot ist schul- und wohnortunabhängig und steht allen interessierten Familien zur Verfügung. Zudem können Schülerinnen und Schüler mit unserer digitalen Lernplattform CHANCENcampus flexibel von zu Hause über ihren persönlichen Lernbereich mit individuellen Lerninhalten arbeiten. Die ChancenAKADEMIE ist unser eigenes Fortbildungsangebot und widmet sich der ganzheitlichen Förderung von Kindern und Jugendlichen und der pädagogischen (Weiter-) Qualifizierung von ehrenamtlichen Übungsleitungen und festen Mitarbeitenden. Wir führen eigene Workshops durch und arbeiten zudem auch mit externen Partnerinnen und Partnern. In den Qualifizierungsangeboten geht es beispielsweise um die Stärkung von Selbstwirksamkeit, Resilienz und Selbst(lern-)Kompetenzen.
 

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Schulen und anderen Bildungseinrichtungen? 
Von den Schulen, mit denen wir zusammenarbeiten, bekommen wir regelmäßig positive Resonanzen. Sie sind in der Regel froh über die Unterstützung, die ihre Schülerinnen und Schüler von uns bekommen. Unsere Zusammenarbeit fußt auf gegenseitigem Vertrauen und regelmäßigem Austausch. Denn wir möchten unsere Angebote an die Bedarfe jeder Schule anpassen. Das geht nur, wenn wir diese im Austausch mit den Schulen kennenlernen.
 

Gibt es Hürden, die Ihre Arbeit erschweren?
Eine große Hürde ist die Finanzierung unserer Angebote. Für die von uns angestrebte flächendeckende Skalierung in die Breite benötigen wir vor allem finanzielle Unterstützung. Hier sehen wir auch eine Rolle von Ministerien. Daher haben wir bereits Kontakt zu diversen Ministerien aufgenommen.
 

Welchen Einfluss hatte die COVID-19-Pandemie auf Ihre Arbeit und wie haben Sie darauf reagiert?
Tausende Kinder und Jugendliche saßen im Frühjahr 2020 plötzlich zu Hause und bearbeiteten Schulaufgaben, die sie von ihrer Schule erhalten hatten. Leider entfielen dadurch Sozialkontakte zu Mitschülerinnen und Mitschülern und auch zu Lehrkräften, die neuen Lernstoff nun nicht mehr grundlegend im Unterricht erklären konnten. Zudem hatten viele Schülerinnen und Schüler zu Hause keinen Zugriff auf PC oder WLAN und konnten möglicherweise durch ihre Erziehungsberechtigten nicht beim Lernen unterstützt werden. Wir sahen die Gefahr, dass für diese Kinder die Schere am Ende der Pandemie noch ein Stückchen weiter auseinandergegangen sein wird. Aus diesem Grund haben wir sehr kurzfristig Lernangebote als Ersatz für unsere vorübergehend nicht mehr durchführbare Lernkaskade entwickelt. Dazu gehört unsere Lernplattform CHANCENcampus und nicht digitale Übungsmaterialien, die den Kindern nach Hause geschickt wurden. Zudem wurde eine Elternhotline für Fragen, Anliegen und Hilfestellungen eingerichtet.

Foto: Chancenwerk e.V.

2023 hat mit der Pisa-Studie und dem OECD-Bericht zur beruflichen Bildung erneut gezeigt, dass Deutschland beim Thema Chancengleichheit schlicht versagt. Es gibt zwar immer mehr Abiturienten, aber auch immer mehr Jugendliche ohne berufsqualifizierenden Abschluss. Wo sehen Sie die Gründe für diese desaströse Entwicklung?
Deutschland liegt bei der internationalen PISA-Studie international nur noch im Mittelfeld. An dem schlechten Abschneiden bzw. Leistungsrückgang hat bestimmt die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen im Schulalltag einen Anteil. Hinzu kommen die Folgen von Flucht- und Migrationsbewegungen, die den Anteil der hinzugewanderten Schülerinnen und Schüler erhöhen. Zusätzlich sind wir mit einem Mangel an Lehrkräften konfrontiert. Dies führt dazu, dass Lehrkräfte in geringerem Umfang auf die individuellen Bedarfe ihrer Schülerinnen und Schüler eingehen können, als sie es gerne tun würden. Insbesondere Schülerinnen und Schüler aus bildungsbenachteiligten Familien haben einen hohen Betreuungsbedarf, den die Lehrkräfte, die oft an ihren Kapazitätsgrenzen arbeiten, nicht decken können.
 

Gibt es für Sie ganz persönlich besondere Erfolgsgeschichten oder Wendepunkte, die Ihnen in Erinnerung geblieben sind?
Es ist schön, wenn man ehemalige Schülerinnen und Schüler trifft, die heute erwachsen sind und mit beiden Beinen im Leben stehen. Anfangs waren wir ja noch selbst Übungsleitung in den Lernförderungen und haben dadurch viele Schülerinnen und Schüler kennengelernt. Wenn sich heute zufällig Wege miteinander kreuzen und die ehemaligen Schülerinnen und Schüler noch heute gern an unsere Lernförderung zurückdenken, ist das ein sehr besonderer Moment.
 

Sie sind im vergangenen Jahr mit dem Integrationspreis der Helga und Edzard Reuter-Stiftung im Stifterverband ausgezeichnet worden. Die Arbeit von Chancenwerk wird auch sonst inzwischen von einer ganzen Reihe von Stiftungen unterstützt. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit? In welchen Projekten wünschen Sie sich weitere Kooperationen und an wen können sich interessierte Stiftungen wenden?
Die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Stiftungen ist von großer Wertschätzung geprägt. Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung, die wir erfahren. Ohne diese wäre unsere Arbeit nicht möglich. Aus der Zusammenarbeit mit manchen langjährigen Partnerinnen und Partnern ist ein sehr vertrautes und freundschaftliches Verhältnis erwachsen. Unterstützung ist bei uns für alle unsere Projekte willkommen. Bei der Projektauswahl stimmen wir uns gerne mit möglichen Förderpartnerinnen und Förderpartnern ab. Interessierte Stiftungen können sich sehr gerne direkt an uns wenden. Das geht per E-Mail oder telefonisch oder auch bei Veranstaltungen, falls wir dort anwesend sind. Gemeinsam möchten wir unsere Angebote langfristig ohne Zugangshürden für sozial benachteiligte Jugendliche erhalten.
 

Gibt es neue Initiativen, die Sie starten möchten? Welche langfristige Vision haben Sie für Chancenwerk?
Nach den letzten Jahren des stetigen Wachstums und der Entwicklung sowie Implementierung neuer Produkte liegt unser Fokus aktuell darauf, unsere Lernförderangebote qualitativ reifen zu lassen und zu skalieren. Denn es gibt noch viele, viele Schulen sowie Schülerinnen und Schüler, die wir noch nicht erreichen, die aber von unserer Arbeit profitieren können.
 

 

CHANCENWERK E.V. IN DER 
ZUKUNFTSMISSION BILDUNG

Der Stifterverband hat 2024 mit der Zukunftsmission Bildung eine große Initiative zur Verbesserung unseres Bildungssystems gestartet. Inklusionsmanager Philip Kösters, Mitglied der Chancenwerk-Geschäftsleitung, ist im Initiatorenkreis der Allianz für Schule Plus der Zukunftsmission Bildung. Was erhofft er sich davon?

Zukunftsmission Bildung (Logo)
Philip Kösters

 
 
"Im Sinne einer vielfältigen, chancengerechten Schule mit wirkungsvollen Lern- und Lebenserfahrungen sehe ich es als geboten, dass eine starke, organisierte Zivilgesellschaft Verantwortung übernimmt, gute Schule mitzugestalten. Dafür müssen wir voneinander wissen, Kräfte bündeln und über die eigene Organisation, den einzelnen Lösungsansatz hinaus in einen Dialog mit Schule, Politik und Wissenschaft treten. Die Allianz für Schule plus hat das Potenzial, dabei eine wichtige und hörbare Stimme zu sein."