Diversität und Stiftungen – Teil 1
Beitrag von Gudula Merchert-Werhahn, Stifterverband
Der englische Begriff "bias" bezeichnet kognitive Verzerrungen, wovon uns die allermeisten jedoch nicht bewusst sind ("unconscious bias"). Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman (2011) beschreibt unser Gehirn als in zwei Denksystemen agierend. Zum einen das Unbewusste (System 1): Es agiert intuitiv, instinktiv, schnell und ohne willentliche Steuerung, wie ein Autopilot, der uns durch die komplexe Umwelt führt, und es greift überwiegend auf bereits gespeicherte Muster und Erfahrungen zurück. Mehr als 90 Prozent unserer Wahrnehmungs- und Denkprozesse laufen unbewusst durch dieses System 1 ab, zum Beispiel dass wir als Autofahrer unmittelbar reagieren, wenn ein Kind auf die Straße läuft. Das Bewusste (System 2) ist das langsame und logische Denken. Wir wenden das bewusste Denken an, wenn wir uns konzentrieren und zum Beispiel im Kopf rechnen. Bewusstes Denken ist für uns anstrengend – daher benutzen wir vorzugsweise unser Unbewusstes. System 1 steuert somit den Großteil unseres Verhaltens.
Die gespeicherten Muster sind durch unsere Erfahrungen unter anderem auch kulturell geprägt und enthalten Vorstellungen davon, wie sich bestimmte Personengruppen verhalten und welche Eigenschaften sie haben. Werden sie positiv oder negativ bewertet, handelt es sich um positive oder negative Vorurteile. Jede und jeder einzelne von uns trägt daher viele potenzielle Vorurteile in sich, derer sie und er sich nicht bewusst ist. Diese können sich zum Beispiel auf Ethnie, Geschlecht, Alter, Behinderung, sexuelle Orientierung, soziale Herkunft oder auch die Religionszugehörigkeit beziehen.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Empfängerinnen und Empfänger von Stiftungsförderung gehören zum Beispiel oft anderen Gruppen an als Stifter oder Stiftungsvorstände. Dadurch kann es auch im Stiftungskontext zu Zuschreibungen kommen, die sich zum Beispiel auf die Organisationsstruktur, die Mittelvergabe oder den Erfolg eines Projektes auswirken können. Obwohl 70 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im gemeinnützigen Bereich weiblichen Geschlechts sind, spiegelt sich dieses Geschlechterverhältnis nicht annähernd bei der Besetzung der Führungspositionen wider – ein Beispiel für unconscious bias.
Anti-Bias ist ein pädagogischer Ansatz, der die verschiedenen Formen von Diskriminierung als Ausdruck gesellschaftlich ungleicher Positionen und Machtverhältnisse in den Blick nimmt. Ziel ist es, Diskriminierung sowohl auf der zwischenmenschlichen, institutionellen als auch gesellschaftlich-kulturellen Ebene abzubauen. Dazu ist die Auseinandersetzung mit den Themen Vorurteile, Privilegien und Macht zentral.
Ein wichtiger Schritt ist, mit Maßnahmen zur Bewusstmachung und mit Trainings (Diversity Awareness) für das Thema des "unconscious bias" zu sensibilisieren. Es gilt, Schuldzuschreibungen und Vorwürfe zu vermeiden, da niemand von diesem Phänomen frei ist. Dabei muss zuerst aufgedeckt werden, in welchen Bereichen die Handelnden welche blinden Flecken haben und zu welchen Nachteilen dies führt, um dann neue Verhaltensweisen zu erproben und einzuüben. Entscheidend ist dabei das Commitment der Führungsebene, da sie als Rollenvorbild agiert. Grundsätzlich sollten jedoch alle operativen und fördernden Mitwirkenden einer Stiftung in die Trainings einbezogen werden.
In allen Wettbewerbssituationen entsteht die Tendenz zu Diskriminierung. Daher ist es eine weitere Maßnahme, Entscheidungsumfelder so zu verändern, dass negative Auswirkungen von "unconcious bias" auf Entscheidungsprozesse bei Ressourcenvergaben abgemildert oder reduziert werden. Als Vorzeigebeispiel gelten hier die sogenannten "blind auditions". Dadurch dass Bewerberinnen und Bewerber auf eine Orchesterstelle hinter einem Vorhang vorspielten, konnte der Anteil von Frauen in renommierten Orchestern vervielfacht werden.
Stiftungen und gemeinnützige Institutionen müssen prüfen, an welchen Stellen und in welchen Zusammenhängen (zum Beispiel Bewerbungen von neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Beförderungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern innerhalb der Organisation, Entscheidungen für Projekte, Bewilligungen von Förderungen etc.), Entscheidungen zugunsten oder zu Ungunsten von Personen(-gruppen) aufgrund bestimmter identifizierbarer Merkmale getroffen werden könnten. Wenn diese Stellen identifiziert sind, gilt es, die Entscheidungszusammenhänge so zu verändern, dass Konventionen aufgebrochen, Prozesse verändert und somit subjektive Entscheidungen verringert werden können.
Eine Gewährleistung der Diversität der jeweiligen Entscheiderinnen und Entscheider ist eine weitere Maßnahme zur Vermeidung der strukturellen Verankerung von "unconscious bias". Je diverser die Zusammensetzung einer Gruppe von Entscheiderinnen und Entscheider, desto geringer die Gefahr von Diskriminierung für die von der Entscheidung Betroffenen.
Neben der Überprüfung und Bewusstmachung von "unconscious bias" im operativen beziehungsweise fördernden Bereich gilt es, auch die Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung auf "unconscious bias" zu überprüfen. Dies betrifft sowohl externe Veranstaltungen (welche Gäste werden eingeladen?) wie auch alle Publikationen und Ausschreibungen sowie die Website der Stiftung (Texte wie Bildmaterial). Eine möglichst diverse Gruppe von Lektorinnen und Lektoren hilft, blinde Flecken aufzuspüren und abzustellen.
Maßnahmen zur Identifizierung von "unconscious bias" im externen wie auch internen Bereich stützen die Glaubwürdigkeit der fördernden Arbeit der Stiftung. Grundlage dafür ist eine Vision für Diversität in der operativen und fördernden Arbeit der Organisation wie auch die Integration von Diversität in einem andauernden Organisationsentwicklungsprozess.
Gudula Merchert-Werhahn
Diversity-Managerin im Stifterverband
Foto: Damian Gorczany